Einander begegnen – Avancer ensemble – We make Europe happen
 
Enseignement de littérature — Une expérience vécue par la terminale S au cours d’allemand (langue du partenaire)

Enseignement de littérature — Une expérience vécue par la terminale S au cours d’allemand (langue du partenaire)

Terminale S - Schulstunde aus dem Jahr 1905
Terminale S - Schulstunde aus dem Jahr 1905

Ein Buch und sein Hintergrund

„Unrat in der Luft“ – so schrien im Jahre 1905 die Schüler, wenn ihr verhasster Lehrer sich auf den Weg zu den verstaubten Klassenräumen in der wilhelminischen Kaiserzeit machte. Eigentlich hieß er Raat, aber alle Schüler und die ganze Stadt, die seiner Tyrannei und seiner Macht- und Rachgier in seiner zwanzigjährigen Tätigkeit am Gymnasium nicht entgehen konnte, nannten ihn „Professor Unrat“ und beförderten in ihm weiterhin die kranke, von Rachgier getränkte Lust, auf dass er all die jungen Bösewichte und Widerspenstigen eines Tages doch „fassen und hereinlegen“ konnte. Sie erledigen konnte. Ein für alle Mal. Fertig machen!

Heinrich Mann (im Jahr 1906)
Heinrich Mann (im Jahr 1906)

Heinrich Mann beschrieb in seinem im Jahre 1905 erschienen Roman „Professor Unrat – Das Ende eines Tyrannen“ diesen tyrannischen autoritären Lehrertypus, der die deutsche Kaiserzeit zur Zeit Wilhelms II im Jahre 1905 karikieren sollte, folgendermaßen:

„Was in der Schule vorging, hatte für Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens. Trägheit kam der Verderblichkeit eines unnützen Bürgers gleich, Unachtsamkeit und Lachen waren Widerstand gegen die Staatsgewalt, eine Knallerbse leitete Revolution ein, ‚versuchter Betrug‘ entehrte für alle Zukunft“.

So quälte dieser Herr Professor tagtäglich die ihm anvertrauten Schüler, machte sie klein und zog einen lüsternen Machtgewinn daraus:

„In ihm war der Drang, jeden je möglichen Widerstand zu brechen, alle bevorstehenden Attentate zu vereiteln, es ringsumher noch stummer zu machen, Kirchhofsruhe herzustellen.“

Schließlich:

„Als Tyrann wusste er, wie man sich Sklaven hält“

Mit diesem Roman, dessen Verfilmung mit Emil Jannings und Marlene Dietrich in den Hauptrollen 1930 unter dem Titel „Der blaue Engel“ zu einem der wenigen wirklichen Welterfolge des deutschen Films wurde, gelang dem Schriftsteller Heinrich Mann eine meisterhafte Karikatur der Wilhelminischen Zeit. Es ist die Geschichte einer boshaften, auf Grund seiner eigenen Geschichte und den Zwängen der damaligen Zeit, hochgradig gestörten Persönlichkeit in der Zeit des deutschen Kaiserreichs – Die Geschichte eines professoralen Gymnasiastenschrecks, einer Spießerexistenz, die in später Leidenschaft einer Kleinstadtkurtisane verfällt. – Soweit der Klappentext zum Buch.

Lektüre in – Realität out?

Titelblatt der Erstausgabe (Foto: H.-P.Haack)
Titelblatt der Erstausgabe (Foto: H.-P.Haack)

Ein paar Wochen haben wir uns im Unterricht mehr oder weniger durch die Seiten dieses zwar interessanten, aber für Franzosen sprachlich sehr anspruchsvollen Buches gequält, das auch Abiturprüfungsstoff im Fach Deutsch Partnersprache ist. Wie aber das Klima der Angst und Demütigung vermitteln, denen die Zöglinge der wilhelminischen Gymnasien um die Jahrhundertwende ausgesetzt waren? Wie die Gefühle beschreiben, die in dieser von strenger Disziplin und harter Autorität geprägten „Untertanenfabrik“ ausgelöst wurden? Wie deutlich machen, dass die Seelen junger Menschen von despotischen kaisergetreuen Lehrern vergiftet wurden und allgemeine Kriegsstimmung sowohl in der Schule als auch im Deutschland der Kaiserzeit herrschte? Und dies in einem freundlich gestalteten Klassenraum, in dem die Schüler lässig auf ihren Stühlen herumlungern, gerne auch mal untereinander ein Schwätzchen halten und sich auch selbstbewusst mit dem Lehrer anlegen…

Vergangenheit erlebbar machen

Wir haben uns von daher für ein Experiment entschieden. Wir – die Klasse Terminale S und ich als ihre Deutschlehrerin – wollten eine Schulstunde aus dem Jahr 1905 möglichst authentisch nachspielen, um ein Gefühl dieser Zeit zu bekommen. Damit das Ganze einen realistischen und nachhaltigen Charakter erfährt, haben wir diese Stunde anhand von Materialien aus der damaligen Zeit (Schulregeln aus dem Jahr 1900) intensiv vorbereitet, nachgespielt und filmen lassen. Die tyrannische boshafte Lehrerin mit all ihren nichtsnutzigen Untertanen…

Das Resultat: Ein Erlebnis und ein Film

So ist eine bleibende Erfahrung entstanden und letztlich ein Film. Der Film (Regie und Bearbeitung: Kevin Knipper, Terminale ES – großen Dank an ihn!) ist realisiert worden als ein der damaligen Zeit angemessener Schwarz-Weiß-Stummfilm und kann auf dieser Seite angesehen werden. Viel Vergnügen beim Ansehen!TeS

Gisela Platz, Deutschlehrerin (Deutsch Partnersprache) der Terminale S

»Download des Videos in höherer Auflösung (avi-Format, ca. 40MB)

Im Nachhinein: Erfahrungen der SchülerInnen

Wie es uns bei unserem Experiment ergangen ist, davon mögen folgende Berichte und Fotos der beteiligten SchülerInnen zeugen:

TeS-1Am Donnerstag, den 24. September 2009 kehrten ich und meine Mitschüler in eine Schulklasse um die Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts zurück. An diesem Tag waren wir alle dem Zeitkolorit entsprechend passend angekleidet. Wir trugen schwarze, mit Schuhcreme polierte glänzende und gesäuberte Lederschuhe, die Haare waren akurat gekämmt und mit Pomade überzogen („gegelt“), der Anzug für Jungs war schwarz und eng, eine Krawatte war obligatorisch. Die Mädels trugen einen langen, eleganten Rock, eine schwarze Bluse und sie mussten ihre langen Haaren zusammenbinden. In der Klasse waren die Jungs von den Mädels getrennt und die Lehrerin Frau Platz thronte auf einem Katheder, einer Art Podest, von dem sie aus alle Schüler der Klasse bis ins letzte Detail sehen konnte.
Als erstes wurde unsere machtbesessene und autoritäre Lehrerin (Frau Platz mal ganz anders, in einem strengen schwarzen Kostüm mit weißen Kragen) begrüßt. Nun durften wir die tyrannische und grausame Atmosphäre der damaligen Zeit miterleben. Es herrschte absoluter Gehorsam und eine Strenge, die man sich heute noch kaum vorstellen kann. Regelmäßig haben wir unseren geehrten Kaiser Wilhelm II. verehrt, dessen Porträt neben der Tafel hing. Zu Unterrichtsbeginn mussten wir die Kaiserhymne vortragen, doch jedem gingen die Worte aus, weil man heute in dieser Atmosphäre weder arbeiten noch sich konzentrieren kann. Als nächstes lasen wir einen lateinischen Text von Julius Caesar, dessen Inhalt eine kriegerische und blutige Massenschlacht in den Pyrenäen beschreibt. Obwohl wir nichts vom Inhalt verstanden, mussten wir den Text möglichst ernst und gefühlvoll vorlesen. Daraufhin ging es mit etwas Französisch weiter: die Interjektion. Dabei sangen wir im Chor alle verschiedene Laute vor, wobei jedes Lachen von der Lehrerin kaum toleriert wurde und als Respektmangel angesehen wurde. Schließlich war die Stunde vorbei: – Mir hat diese gespielte Erfahrung Spaß gemacht und es hat mir sehr für das Verständnis des Buches geholfen. Man konnte sich besser die damalige Zeit vorstellen und die strenge Atmosphäre miterleben. Man sah, wie die Menschen angekleidet waren und wie die damalige Mentalität war. Daraus kann man auch schließen, dass die Gesellschaft riesige Schritte begangen hat und es also eine wichtige Entwicklung im Bereich der Bildung gegeben hat. (Florian Carvennec, TS2)

TeS-2Wir saßen alle in Zweier-Bänken. Mädchen und Jungs selbstverständlhch getrennt und ein Schüler hielt die Tür auf für die Lehrerin. Beim Antworten hatten wir uns rasch zu erheben, gerade zu stehen und der Lehrerin fest ins Auge zu schauen und in vollständigen Sätzen rein und laut zu sprechen. Die Lehrerin forderte uns zunächst auf, die Kaiserhymne aufzusagen. Es gab aber einige, die „ihrs nicht präpariert hatten“ und deshalb von der Lehrerin mit ihrem Stöckchen in der Hand einiges zu hören bekamen. Danach bekamen wir Bücher, die in der Klasse ausgeteilt werden sollten. Die Lehrerin teilte diese an die Bankobersten aus. Es hätte dann so aussehen sollen, dass auf ihr Kommando „eins“ jeder Bankoberst ein Buch nimmt und die übrigen auf weitere Kommandos („zwei“, „drei“.etc.) an den Nachbarn weitergibt. Das klappte nicht so gut und die Lehrerin hielt uns von daher einen Vortrag, dass wir mit unserer mangelnden Disziplin und unserer Unordnung das deutsche kaieserliche Militär beleidigen würden und insgesamt nur schlechte Untertanen seien. Merkwürdig für mich war, dass wir in dieser Stunde allmählich das Bedürfnis verloren zu lachen, zu reden und in der Klasse umherzugucken. Obwohl wir wussten, dass es ein „Spiel“ war. Man hatte den Eindruck, dass wir uns innerhalb von 20 Minuten schon halbwegs an die Verbote gewöhnt hatten. Am Ende der Stunde hatten wir uns schon tatsächlich fast an die Schulregeln von 1900 halten können und es war ein merkwürdiges Gefühl zu merken, wie schnell man sich an andere Regeln halten und an eine tyrannische Lehrerin gewöhnen konnte. Obwohl wir Frau Platz, unsere Deutschlehrerin, ganz anders kennen und gewohnt sind. (Aliénor Berendt, TS2)

TeS-3Wir saßen in der Klasse wie kleine Hunde, die man zwingt brav sitzen zu bleiben in einem Moment, wo sie nach draußen rennen wollen. Wir waren allein in unseren engen Kleidern und unseren zugebundenen Harren und bis oben zugeknöpften Hemden. Nichts durften wir vor dem Drachen, der einen anspuckte, sagen. Zum Glück wussten wir, dass es nur ein Spiel war und keine Realität. Damit wir uns unser ganzes Leben daran erinnern können, wurden wir sogar noch gefilmt. Wenn es nicht so zum Lachen gewesen wäre, hätte es sicherlich zu einem Aufstand, einer Rebellion führen können! Wie kann man sich nur so Menschen gegenüber benehmen?! (Julie Bichler, TS2)

TeS-4Ich habe mich eigentlich gefragt, wie die Schüler damals in dieser Atmosphäre arbeiten konnten. Die Armen, sie hatten richtig Pech. Schüler fühlten sich so schwach und unfähig, da die strengen Lehrer sie andauernd demütigten. In dieser Zeit hatten die Schüler richtig Angst vor dem Lehrer, im Gegensatz zu unserer Zeit, und darum waren sie auch voller Hass. Die Lehrer hatten so viel Macht, sie waren richtige Diktatoren im Unterricht. Außerdem wurden den Schülern nur unnötige Sachen beigebracht : immer auswendig lernen. Ich persönlich könnte nicht so leben. Als wir das Ganze gespielt haben, war mir immer nach Lachen zumute. Ich fand das Ganze irgendwie immer so lustig, da ich es einfach nicht ernst nehmen konnte. Es schien mir so total anders als heute und irgendwie sogar asozial. (Jean Zhianfar, TS2)

TeS-5Für mich war dieses Experiment bereichernd. Man bemerkte dadurch erst, dass sich das Schulsystem entwickelt hat. Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ist ganz anders als damals. Heute können wir unsere Meinung sagen oder wir können lächeln und auch lachen. Man glaubt, dass das nur eine kleine Sache sei, aber es ändert wirklich die Atmosphäre in der Klasse. Es zeigt uns, dass wir wirklich Glück haben, dass sich das Schulsystem entwickelt hat. Ein großer Schritt war gemacht. Dieser ungewöhnliche Schultag hat uns das gezeigt. (Florence Kamin, TS1)

TeS-13Wir sind es gewohnt mit dem Lehrer zu sprechen und ihm auch zu sagen, wenn wir mit etwas nicht einverstanden sind und unsere Sichtweise zu zeigen. Oder nicht zu allem „Ja“ zu sagen, was der Lehrer sagt. Aber das Schwierigste war, dass wir nicht lachen durften. Wir haben durch diese Stunde verstanden, warum es so viele Selbstmorde bei Jugendlichen in Japan gibt. (Elodie Stawowczyk, TS2)

TeS-7Mir hat diese etwas andere Deutschstunde gefallen, weil diese damalige Situation uns heute lustig oder komisch vorkommt. Wir können unseren heutigen Unterricht deshalb nur schätzen, wenn man weiß, wie dieser noch vor einem Jahrhundert war. (Oliver Scholz, TS2)

TeS-8Nach und nach war jeder in die Haut der damaligen Schüler geschlüpft und die Atmosphäre war sehr gespannt. Nebenbei war es richtig anstrengend, eine Stunde lang den Rücken gerade zu halten, die Füße flach und parallel zu lassen und die Hände flach auf dem Tisch zu behalten. Ich denke, dass wir uns jetzt viel besser vorstellen können, wie es damals war: Es war schrecklich! (Mélanie Lind, TS2)

TeS-12Mein Gefühl ist, dass ein Schüler entweder ein Untertan oder ein Rebell werden konnte. Die damaligen Schüler mussten es schwer haben und ich bin nicht erstaunt, dass es zu Krieg und zu totalem Gehorsam führte. (Philippe Savard, TS2)

TeS-14Keine Rechte zu haben, nicht sprechen zu dürfen, seine Meinung für sich zu behalten, keinen Widerspruch, keinen Kommentar äußern zu dürfen, musste schon sehr schwer sein. Was noch härter war, war zu wissen, dass man keinen Status hatte, nie Recht haben konnte. (Helena Gerber, TS2)

TeS-11Obwohl einige ein leichtes Grinsen auf ihren Lippen hatten, waren wir alle in der Stimmung der Wilhelminischen Epoche: Wir fühlten uns eigentlich wie Staub auf den Boden… (Marie-Camille Schoumacher, TS2)


TeS-15Meine Hände zitterten und schwitzten. Als die Lehrerin merkte, dass ich nichts gelernt hatte, hat sie gesagt: „Herr Henrion, dass kann schlecht für ihre Karriere sein, wenn Sie so weiter machen. Ich glaube ihr Vater hatte auch solche Probleme. Sitz!“. Ich war so erniedrigt, dass ich nichts mehr denken oder sagen konnte, ich gehorchte nur, wie ein kleiner Hund. Heil dir Kaiser!!! (Thomas Henrion, TS2)

TeS-10Die Atmosphäre war ungewöhnlich und sehr kalt. Die Lehrerin hat uns nicht einmal begrüßt, sie war sehr streng. Ich habe diese Stunde als sehr bereichernd empfunden und ich denke, dass wir uns jetzt besser vorstellen können, wie es früher in der Schule war und welche Beziehung die Schüler zu den Lehrern hatten. Zum Schluss würde ich euch, meinen Mitschülern, empfehlen, auch einmal ein solches Experiment zu machen! (Claire Houttemane, TS2)

PDFdrucken